Anfänge des "Echolot"-Projekts und späte Anerkennung

1980-2007

Anfang der achtziger Jahre tritt in Kempowskis Schaffen in eine neue Phase: Bis dahin hatte er ausschließlich Erinnerungen und Dokumente zur eigenen Familiengeschichte gesammelt. Im Laufe der Recherchen zur „Deutschen Chronik" verlagert sich sein Interesse allerdings zunehmend auf autobiografische Zeugnisse im Allgemeinen. Im Jahr 1980 führt diese Akzentverschiebung zur Gründung des „Archivs für unpublizierte Biografien“, für das Kempowski eigens einen Anbau an sein Nartumer Wohnhaus errichten lässt. Auf Flohmärkten und in Trödelläden ersteht Kempowski in den Folgejahren Briefe, Tagebücher und Fotoalben, parallel dazu werden die Leser der großen Tageszeitungen in Inseraten um die Übersendung autobiografischer Zeugnisse gebeten. Auf diesem Weg häuft sich über fast ein Jahrzehnt eine gewaltige Quellenbasis an, die schließlich zum Ausgangspunkt für Kempowskis beeindruckendste schriftstellerische Leistung wird: das „Echolot". In dieser einzigartigen Dokumentation fügt Kempowski Zeitzeugenberichte zu den ersten beiden Monaten des Jahres 1943 zu einer monumentalen Geschichtscollage zusammen. Er selbst tritt als Autor vollständig in den Hintergrund, abgesehen von einem kurzen Vorwort stammt keine Zeile vom ihm. Nur „zwischen den Zeilen“, in der sorgsamen Zusammenstellung der einzelnen Zeugnisse, kommt Kempowski zum Vorschein. Der auf diese Weise arrangierte Zeitzeugenchor berichtet über Alltägliches ebenso wie über den Bombenkrieg, das Sterben an der Front oder die Verbrechen des Holocaust. „Einfache Menschen“ kommen ebenso zu Wort wie die Akteure der großen Weltpolitik. Berichte über Familienfeiern werden den Ereignissen im KZ Auschwitz gegenübergestellt, die Tagebucheinträge Thomas Manns stehen neben den Aufzeichnungen von Hitlers Leibarzt. Es ist gerade diese Gleichzeitigkeit, die den Schrecken der Ereignisse vollends deutlich und Geschichte für den Leser begreifbar macht.
Anlässlich seiner Veröffentlichung im Jahre 1993 wird das „Echolot“ von der Kritik gefeiert. Zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes finden in zahlreichen deutschen Städten Mammutlesungen des Werkes statt. In den folgenden zwölf Jahren erscheinen weitere „Echolot"-Folgen, die den Überfall auf die Sowjetunion, den Kriegswinter 1945 und die endgültige Niederlage des „Dritten Reiches“ dokumentieren. Angesichts dieses Erfolgs sehen sich auch frühere Kempowski-Skeptiker und Gegner zu Neubewertungen veranlasst. Stimmen, die den Nartumer Chronisten immer noch einen „Geschichtsverharmloser" schelten oder ihm lediglich Rang eines „wackeren Sammlers"  zubilligen wollen, sind seit dem Erscheinen des „Echolots" weniger häufig zu vernehmen. Vollständig verstummen werden sie freilich nie.
Im Herbst 2006 wird bei Walter Kempowski Darmkrebs diagnostiziert. Die Ärzte setzen die ihm verbleibende Lebensspanne auf wenige Monate fest. Trotzdem bleibt Kempowskis Energie ungebrochen. Angetrieben wird er offensichtlich die Sorge um seine zahlreichen noch nicht abgeschlossenen Vorhaben. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an das multimediale „Ortslinien“-Projekt oder das Archiv für Migrationsgeschichte, in dem die Erfahrungen ausländischer Mitbürger für die Nachwelt aufbewahrt werden sollen. Ein letzter Höhepunkt ist im Leben des Schriftstellers sicherlich die Ausstellung „Kempowskis Lebensläufe“, die im Mai 2007 in der Berliner Akademie der Künste eröffnet wird. Der Geehrte kann das Ereignis allerdings nur noch aus der Ferne miterleben. Die Würdigung, die Kempowski in den Laudationes des Bundespräsidenten und seines Schriftstellerkollegen Martin Mosebach erfährt, ist ihm aber eine späte Genugtuung.
Im Juni 2007 wird in Gießen die Kempowski-Gesellschaft gegründet.
Walter Kempowski stirbt am 5. Oktober 2007 in Rotenburg/ Wümme.

(Andreas Pfeifer)

Zur Biographie vgl. besonders:
Dirk Hempel: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. 3., erw. Aufl. München: btb 2007.